Kultur

“Medea“ am Staatstheater Kassel

Das Leben als Spiel von Schatten


(Quelle: N.Klinger)
Rahel Weiss
(Quelle: N.Klinger)
GDN - Das Staatstheater Kassel nimmt mit “Medea“ einen der bedeutendsten Stoffe der Weltliteratur in den Blick. Die gelungene Inszenierung von Johanna Wehner erntet zu Recht starken Applaus vom Publikum. Medea-Darstellerin Rahel Weiss stand German Daily News für einige Fragen zur Verfügung.
Christian Ehrich
Quelle: N.Klinger
KREON - “Wer lebt glücklich?“ Mit dieser fundamentalen Frage eröffnet, gekleidet in einen nahezu lächerlich wirkenden Pelzmantel und mit überbordendem Schmuck herausgeputzt, der König von Korinth (Christian Ehrich) und Vater von Glauke, die er Jason zur Frau versprochen hat, den Abend. Die Zuschauer erleben einen realitätsfernen Herrscher, der sich manches einredet und da seine Gedanken ausschließlich um ihn selbst zu kreisen scheinen, nicht erfassen kann, warum er in das Dilemma um Medea verstrickt ist.
Rahel Weiss
Quelle: N.Klinger
Nachdem die Produktion ursprünglich bereits in der vergangenen Spielzeit Premiere feiern sollte, doch wenige Tage zuvor dem Shutdown zum Opfer gefallen war, ist die Kasseler Produktion “Medea“ seit Oktober endlich zu erleben. Für die Beteiligten stellte dies eine besondere Herausforderung dar, wie sich die Schauspielerin Rahel Weiss erinnert. “Tatsächlich habe ich mich ein halbes Jahr regelmäßig mit den Texten beschäftigt. An den verrücktesten Orten und zu allen möglichen Zeiten. Das hatte sicher auch Gutes. Aber gleichzeitig war es auch eine enorme Anspannung, weil wir als Ensemble immer wussten, dass die Premiere erst noch kommt.“
Laut Dramaturg Michael Volk mussten erfreulicherweise nur geringe Veränderungen an der ursprünglichen Inszenierung vorgenommen werden, um sie den geltenden Abstandsregeln anzupassen. Lediglich der innige Hochzeitstanz von Jason und Glauke sei einer zarten Andeutung gewichen, da die Regisseurin Johanna Wehner von Anbeginn ein von Monologen getragenes Stück, das isolierte einsame Menschen zeigt, konzipiert hatte.
“Dementsprechend gab es wenig Zugeständnisse, die wir den Corona-Vorgaben machen mussten, weil wir ohnehin etwas über die Vereinzelung und Einsamkeit der Figuren erzählen wollten,“ erläutert Rahel Weiss. “Insofern haben wir die Ursprungsidee weiterverfolgt, da diese Themen ja verständlicherweise unter dem Brennglas der Pandemie und des Abstands gesellschaftlich deutlicher wurden.“
Medea, jene Frauengestalt der griechischen Mythologie, die ebenfalls in der bildenden Kunst und in der Musik nachhaltig verfangen hat, zählt seit der Antike zu den bedeutendsten Figuren der Weltliteratur und wirft seit nunmehr fast 2500 Jahren die wohl unlösbare Frage auf, warum sie ihre eigenen Kinder umbringen konnte. Wurde sie von barbarischer Rache, schierer Aussichtslosigkeit, dem Verlangen nach Selbstbestimmung, um die gefühlte Machtlosigkeit zu bewältigen, dem Wunsch nach Überwindung der Geschlechterordnung oder wie 2018 in der Inszenierung von Simon Stone am Wiener Burgtheater von der Sehnsucht, sich mit ihren Kindern im Tod endgültig zu vereinen, getrieben?
Hagen Bähr
Quelle: N.Klinger
JASON - “Jetzt ist alles gut“ Medeas einstiger Ehemann (Hagen Bähr), den der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer noch als aufrechten Helden gezeichnet hat, versucht sich, vor sich selbst zu rechtfertigen und sich von seiner Vergangenheit zu distanzieren. Doch sein Gebaren wirkt verantwortungslos. Zu tiefer Liebe scheint er, der Frauen erkennbar ausnutzt, um seine hochtrabenden Ziele zu erreichen, nicht fähig. Der expressive Habitus, großartig verkörpert von Hagen Bähr, offenbart ungewollt vielmehr seine innere Zerrissenheit sowie den Wunsch, den eigenen Worten und Gedanken Glauben zu schenken.
Jason beabsichtigt die Königstochter Glauke zu heiraten und Medea, die zuvor aus aufrichtiger Liebe alles bis zum Brudermord für ihn getan hat, zu verschmähen und verfolgt die durchschaubare Strategie, Medea seine Heirat mit der Königstochter als Aufstiegsmöglichkeit für die gemeinsamen Kinder darzustellen, doch diese wird tätig “¦ und ihre Rache fällt maßlos aus.
Judith Florence Ehrhardt
Quelle: N.Klinger
GLAUKE - “Ich möchte leben“ Die Tochter König Kreons (Judith Florence Ehrhardt), deren Namen Euripides in seiner Bearbeitung des Stoffes aus dem Jahre 431 v. Chr. nicht einmal erwähnt, bekommt in Kassel sogar eine Stimme verliehen. Doch bis zu ihrem Auftritt ist sie oftmals nur schemenhaft in der Ferne, als eine offenbar isolierte Person, die mit der Geschichte, die sie doch ungewollt maßgeblich angestoßen hat, scheinbar nichts zu tun hat, zu sehen. Fürwahr erlebt Glauke eine gänzlich andere Wirklichkeit als die übrigen Protagonisten, war sie doch an der Vergangenheit, die Jason und Medea einholt, unbeteiligt und nimmt somit eine naiv-unschuldige Perspektive ein.
“Alles, was wir sehen, ist eine Perspektive, keine Wahrheit“, erkannte schon der römische Kaiser und Philosoph Marcus Aurelius. Diese Weisheit macht Regisseurin Johanna Wehner, die 2017 für ihre Inszenierung "Orestie" am Staatstheater Kassel den FAUST-Theaterpreis erhielt, erlebbar, denn mittels des reizvollen Grundgedankens der Monologform gelingt es, hervorzuheben, wie sehr jede der auftretenden Figuren in ihrer Perspektive verhaftet bleibt und sich ihre Wirklichkeit subjektiv formt.
Quelle: N.Klinger
“Das Leben ist ein Spiel von Schatten.“ In Platons legendärem Gleichnis erblicken in einer höhlenartigen unterirdischen Behausung kauernde Menschen nie etwas anderes als Schatten an der Wand und halten diese für die Realität, ohne sie als bloße Abbilder der Wirklichkeit zu erkennen. Die langen Schatten, die über die Fantasien freisetzende Bühne (Benjamin Schönecker) huschen, verfolgen und verunsichern die Akteure (Licht: Brigitta Hüttmann). Werden sie von den Schatten der Vergangenheit oder dem bedrohlichen Unterbewussten eingeholt?
Lukas Umlauft
Quelle: N.Klinger
AMME - “Was soll ich tun? Was kann ich tun?“ Die Amme (Lukas Umlauft) begleitet Medea seit ihrer Geburt, ist deren einzige Vertraute und weiß allzu genau, wie es um die Gemütslage ihrer Herrin bestellt ist. Sie sorgt sich, ahnt sie doch die erbarmungslose Rache, die Medea für das ihr angetane Unrecht üben wird. Jedoch verbieten es ihre Stellung und unerschütterliche Loyalität energischer einzugreifen. Sie hadert und verzweifelt an ihrem Wissen, verliert sich in Rechtfertigungen, bei denen sie zwischen den Pronomen “ich“ und “man“ pendelt, sieht aber keine Möglichkeit zu handeln, denn “man ist ja so allein“.
Rahel Weiss
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MEDEA - “Es gibt kein Haus mehr. Alles ist vorbei.“ Medea (Rahel Weiss) hat alles verloren. Aus Liebe hat sie ihren Bruder getötet, ihrer Heimat den Rücken gekehrt und die Verbindung zur Familie und ihrer Vergangenheit abgebrochen. Sie ist in jeglicher Hinsicht heimatlos, ganz unten und tritt folgerichtig aus dem finsteren Untergrund auf die Bühne. Medea sieht für sich keine Perspektiven und Gestaltungsmöglichkeiten“¦ außer einer letzten.
Vor der Rolle der Medea habe sie großen Respekt, aber auch Vorfreude empfunden, verrät Rahel Weiss.
“Spannend war dann der Umgang mit den vielen, vielen Zugriffen, die in verschiedensten Kunstformen in der Vergangenheit bereits Ausdruck gefunden haben. Jeder liest etwas anderes heraus, für jeden ist etwas anderes wichtig. Das ist letztendlich auch die Angst, dass man dieser Figur nicht gerecht wird, weil ihr ein so großes Potenzial an Projektion innewohnt.
Und die Freude kommt, wenn man gemeinsam diese Untiefen ausgelotet hat und dann auf der Bühne steht, spielt und eine Interpretation für den Moment herausfindet.“
Medeas Taten, die Ermordung des Bruders und vor allem der eigenen Kinder, erscheinen unbegreiflich. Um die Motive, Handlungen und Gefühle der Figur nachzuvollziehen, habe sie zahlreiche Inspirationen genutzt.
“Das sind Assoziationen, Gespräche, Filme, Themen, Dokumentationen, Bücher und auch Musik. Prägend war sicherlich für mich das Buch von Tony Morrison “Menschenkind“. Weil es dort für mich im Kontext der Sklaverei um eine Stimme geht, die Jahrhunderte altes Unrecht und dauerhafte Unterdrückung poetisch artikuliert und Unfassbares beim Lesen spürbar macht. Diese Stimme war für mich Medea, die ja auch immer wieder um ihre Worte ringt, Unbegreifliches erlebt und dann die Tat begeht.“

Rahel Weiss
Quelle: N.Klinger
“Und das fand ich spannend, dass diese mythische Figur Medea alles tötet, was sie umgibt und am Ende sich selbst als Mensch auslöscht. Eine negative Emanzipation in gewissem Sinne. Etwas, das mit Worten zu beschreiben unmöglich erscheint. Vielleicht auch unbegreiflich bleibt. Die Bewertung an sich greift zu kurz, denn einerseits ist das psychologisch sicherlich erklärbar, nachvollziehbar oder sogar zutiefst menschlich. Andererseits ist es eben unvorstellbar und irrational und grausam und unmenschlich. Und genau dieses Spannungsfeld hat in meiner Wahrnehmung viel mit der Figur zu tun! Diese Gleichzeitigkeit von Gegensätzen.“
Zu Recht spendet das Publikum starken Applaus und Bravo-Rufe für ein überzeugendes Ensemble und eine anregende Annäherung an die Jahrtausende alte Tragödie. Bei der Gestaltung ihrer Rolle haben Rahel Weiss “alle Kolleg*innen auf, aber auch vor allem hinter der Bühne“ geholfen. “Darum an genau dieser Stelle: Vielen herzlichen Dank dafür.“ Zum Schluss wünscht sich die Schauspielerin: “Hoffentlich spielen wir bald wieder. Am Ende verbeugen wir uns gemeinsam - alle einsamen Figuren zusammen. Das wünsche ich mir bald wieder zu erleben.“ Diesem Wunsch schließen wir uns von ganzem Herzen an!
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